Aus Jungs werden Männer, sagt man. Das absolute Gegenteil dieser vermeintlichen Tatsache wird im Herbst jedoch regelmäßig offensichtlich, denn wenn ein stürmischer Wind aufkommt ist die Zugriffszeit auf einen Drachen in der Garage oder im Keller denkbar kurz.
Es gibt sie in den verschiedensten Varianten. Für den ruhigen Benutzer der einfache Drachen mit buntem Schweif, für den Draufgänger lenkfähige Modelle, welche kunstflugähnliche Manöver zulassen. Drachenfliegen gehört schon seit Kindertagen zu den beliebtesten Aktivitäten beim sonst so schnöden Herbstwetter. So auch in diesem Jahr, als ich mit meinem Bruder am Feldrand stand und wir unser Kinderspielzeug gen Himmel schickten. Als dann noch strahlende Kinderaugen uns „routinierten“ Drachenflieger zuschauten, war der väterliche Stolz perfekt. Da wir anfänglich nur über einen Drachen verfügten, mussten weitere her. Die Wahl des zukünftigen Modells war in Ermangelung der Auswahl auf ein Modell beschränkt, welches sich im Anschluss vor starkem Wind offensichtlich fürchtete. Statt stabiler Fiberglasstäbe wurde das Modell mittels windgefüllter Luftkanäle offen gehalten, jedoch nicht bei typischen Herbstwinden. Eine Vielzahl von Startversuchen später resignierten nicht nur die aktiven Drachenflieger, sondern auch die fleißigen Drachenstart-Assistenten aus unserer Familie.
Permanente Freude verteilte jedoch das Modell „Asbach-Uralt“, welches sich durch ein beständiges Flugverhalten an nur einer Leine auszeichnete. Diese Beständigkeit führte dann zum waghalsigen Versuch die Leinenspule in die Hand eines einjährigen Sprösslings zu legen, in der Hoffnung, dass der Zwerg der sonst alles festhält hier genauso konsequent zugreift. Der anschließende Sprint hinter der vom Drachen gezogen flüchtenden Leinenspule bewies, dass es doch Interessanteres gibt, als den Drachen zu halten. Nur gut, dass die Flugeigenschaften des Drachens jenen am Himmel hielten und die Spule im Gestrüpp hängen geblieben ist. Nach einer waghalsigen „Befreiungsaktion“ kam mein Bruder aus dem haltenden Teil der Flora wieder zurück und verwies auf die sonst so beständige Haltefunktion der kleinen Kinderhände.
Zwischenzeitlich wurde ein weiteres, lenkfähiges Modell in der heimischen Garage gefunden und sofort steigen gelassen. Für diese Form der Flugkunst war jedoch schon mehr Geschick erforderlich, denn beide Leinen möchten fachgerecht geführt werden, damit kein Absturz vorprogrammiert ist. Nur kurz war die anfängliche Eingewöhnungszeit und schnell ging es zu den waghalsigen Manövern. Schaute man aus der Ferne zu, schienen beide Drachen ein ungleiches Pas de deux vorzuführen, denn neben dem wilden, seine Bahnen ziehenden Lenkdrachen schien der einfach Drachen doch recht schüchtern in der Luft zu stehen und sich umtanzen zu lassen.
Letztendlich strahlten an diesem Herbstnachmittag nicht nur die Kinderaugen, sondern auch die der Jungs, welche zu Männern gereift sind. Anschließend wurden alle Leinen wieder auf die Spulen aufgewickelt und Planungen für den nächsten stürmischen Herbstnachmittag geschmiedet.